Exotischer Materiezustand: "Flüssige" Quantenspins bei tiefsten Temperaturen beobachtet

Gemeinsame Nachricht von Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) und HZDR vom 26. Juli 2016

Ein Team von Helmholtz-Wissenschaftlern aus Berlin und Dresden hat experimentell eine sogenannte Quanten-Spinflüssigkeit in einem Einkristall aus Kalzium-Chrom-Oxid nachgewiesen. Dabei handelt es sich um einen neuartigen Materiezustand. Das Besondere an dieser Entdeckung: Nach gängigen Vorstellungen war das Quantenphänomen in diesem Material gar nicht möglich. Nun liegt eine Erklärung vor. Die Arbeit erweitert das Verständnis von kondensierter Materie und könnte auch für die zukünftige Entwicklung von Quantencomputern von Bedeutung sein. Die Ergebnisse sind nun in der Fachzeitschrift „Nature Physics“ veröffentlicht.

Es entspricht unserer alltäglichen Erfahrung, dass Materie bei tiefen Temperaturen gefriert und die Atome eine feste, regelmäßige Struktur bilden. Auch in magnetischen Materialien kommen die magnetischen Momente der Elektronen (Spins) bei sinkenden Temperaturen zur Ruhe und richten sich starr aus. Allerdings gibt es seltene Ausnahmen: In sogenannten Quanten-Spinflüssigkeiten bleiben die Elektronenspins selbst bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt beweglich.

Nach bisherigem Verständnis sind dafür antiferromagnetische Wechselwirkungen zwischen den Spins verantwortlich. Anders als in Antiferromagneten mit durchwegs antiparalleler Spinstruktur, können sich Spins an den Ecken eines Dreiecks nicht zu beiden Nachbaratomen gleichzeitig antiparallel ausrichten. Diese „Frustration“ sorgt dafür, dass die Spins selbst am absoluten Nullpunkt nicht zur Ruhe kommen und wie in einer Flüssigkeit beweglich bleiben. Oft hebt jedoch eine Störung die Frustration bei tiefen Temperaturen auf, sodass sich die Spins doch noch parallel ausrichten können Entsprechend kamen bislang nur wenige Materialien als Spinflüssigkeiten in Frage.

Einkristalle mit komplexen magnetischen Wechselwirkungen

Nun hat ein Team von Physikern der Helmholtz-Zentren Berlin (HZB) und Dresden-Rossendorf (HZDR) sowie weiterer internationaler Partner um Prof. Dr. Bella Lake erstmalig am HZB Einkristalle aus Kalzium-Chrom-Oxid (Ca10Cr7O28) hergestellt und untersucht. Kalzium-Chrom-Oxid ist aus sogenannten Kagomé-Gittern aufgebaut, die an japanische Flechtmuster aus Dreiecken und Sechsecken erinnern. Dabei bildet sich in Kalzium-Chrom-Oxid ein komplexes Set an magnetischen Wechselwirkungen: So gibt es nicht nur antiferromagnetische Kopplungen, sondern auch sehr starke ferromagnetische Wechselwirkungen, die nach dem gängigen Modell eine Spinflüssigkeit verhindern müssten.

Experimente an verschiedenen Neutronenquellen in Deutschland, Frankreich, England und den USA zeigten jedoch, dass die Spins in diesen Proben auch noch bei tiefsten Temperaturen von 20 Millikelvin hochbeweglich bleiben. Auch Myonen-Spektroskopie-Messungen am Paul-Scherrer-Institut in der Schweiz und Messungen der komplexen Wechselfeld-Suszeptibilität am HZDR belegen, dass sich die Spins in diesem Kristall wie eine Flüssigkeit verhalten.

Konkurrenz der Kräfte

"Wir haben experimentell nachgewiesen, dass interessante Quantenzustände wie Spinflüssigkeiten auch in deutlich komplexeren Kristallen mit unterschiedlichen magnetischen Wechselwirkungen auftreten können", sagt Dr. Christian Balz vom HZB und Erstautor der Arbeit. Dieses Ergebnis wird auch mittels numerischer Simulationen unterlegt. Der HZB-Wissenschaftler Prof. Johannes Reuther hat mit Methoden der theoretischen Physik beleuchtet, wie die verschiedenen magnetischen Kopplungen in Kalzium-Chrom-Oxid miteinander konkurrieren und Spins in dynamischer Bewegung halten.

Mehr Kandidaten für Spinflüssigkeiten

Prof. Bella Lake vom HZB erklärt: "Die Arbeit erweitert nicht nur das Verständnis von kristalliner Materie, sondern zeigt auch, dass es sehr viel mehr Kandidaten für Spinflüssigkeiten gibt, als erwartet. Dies könnte in Zukunft für die Entwicklung von Quantencomputern interessant sein, denn Spinflüssigkeiten gelten als mögliche Bausteine für kleinste Informationseinheiten, die sogenannten Qubits.“ Der Physiker Dr. Thomas Herrmannsdörfer vom Hochfeld-Magnetlabor Dresden des HZDR fügt hinzu: „Um herauszufinden, wie viel wissenschaftliches und technologisches Potenzial in komplexen Materialien steckt, sind wir auf die Großforschungsgeräte der Helmholtz-Gemeinschaft angewiesen. So können wir mit unseren Strahlungsquellen und leistungsfähigen Magneten besonders aufschlussreiche Messungen bei extrem tiefen Temperaturen durchführen, die sonst so nicht möglich sind.“


Publikation: Christian Balz, Bella Lake, Johannes Reuther, Hubertus Luetkens, Rico Schönemann, Thomas Herrmannsdörfer, Yogesh Singh, A. T. M. Nazmul Islam, Elisa M. Wheeler, Jose A. Rodriguez-Rivera, Tatiana Guidi, Giovanna G. Simeoni, Chris Baines and Hanjo Ryll: „Physical realization of a quantum spin liquid based on a complex frustration mechanism”, in Nature Physics, Online-Veröffentlichung am 25. Juli 2016, DOI-Link: 10.1038/nphys3826


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Dr. Thomas Herrmannsdörfer
Abteilungsleiter am Hochfeld-Magnetlabor Dresden des HZDR
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