Europa braucht Schlagkraft auf den Rohstoffmärkten

Die EU ist bei Rohstoffen für Energiewende und Digitalisierung vom Ausland abhängig. Eine EU-Rohstoffagentur soll das ändern, fordern Jakob Kullik und Jens Gutzmer. Ein Gastkommentar im Handelsblatt.

Foto: Dr. Jens Gutzmer udn Jakob Kullik ©Copyright: Portrait Liebe Fotografie, André Wirsig

Jakob Kullik (l.) ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Internationale Politik der Technischen Universität Chemnitz. Jens Gutzmer ist Geologe und Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts Freiberg für Ressourcentechnologie.

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Wir stehen am Anfang einer gigantischen Zeitenwende, was Rohstoffe betrifft. Das Zeitalter der Kohlenwasserstoffe neigt sich langsam, aber sicher dem Ende zu. Zwar werden auch im 21. Jahrhundert große Teile der Weltwirtschaft noch auf das „schwarze Gold“ des 20. Jahrhunderts angewiesen sein. Aber die Weichen für den Übergang raus aus der fossilen Zeit in den nächsten Jahrzehnten sind in allen großen Industrienationen bereits gestellt.

An die Stelle der fossilen Energieträger treten nicht einer, sondern viele verschiedene anorganische Rohstoffe, ohne die unsere Wirtschafts- und Energiesysteme schon jetzt nicht funktionieren würden. Zu diesen Rohstoffen gehören etwa Kupfer, Kobalt, Nickel, Lithium sowie die Metalle der Platingruppe und der Seltenen Erden.

Diese werden in immer größeren Mengen und komplexeren Zusammensetzungen für die smarten Geräte, Batterien, Computer und Elektroautos benötigt. Sie bilden das Fundament unserer technologischen Zukunft. Ohne diese Rohstoffe keine Energie-, Klima- und Verkehrswende.

In Europa, dem selbst ernannten Vorreiterkontinent für Klimaschutz und saubere Zukunftstechnologien, werden diese Rohstoffe jedoch bisher nur in sehr geringem Umfang – oder auch gar nicht – abgebaut. Stattdessen bedient sich Europa an den Rohstoffen der übrigen Welt – wobei ein Großteil der Rohstoffimporte aus China, Zentralafrika, Südamerika und den Ländern des Indo-Pazifiks stammt. Allesamt Regionen, die wir auf der neuen Rohstoffkarte der Welt im Blick haben sollten.

Es ist nicht mehr der Nahe Osten als Nabel der Weltenergieversorgung, der uns Sorgen bereiten sollte, sondern die Gruppe der dominanten Förderländer und -regionen, in denen die kritischen beziehungsweise wirtschaftsstrategischen Rohstoffe abgebaut und verarbeitet werden. Und zur neuen Rohstoffgeografie kommen neue Rohstoffunternehmen, deren Namen der breiten Öffentlichkeit kaum geläufig sind.

Die Giganten des Ölzeitalters waren und sind BP, Saudi Aramco und Gazprom. Die neuen Player sind sehr gut etablierte, global ausgerichtete und diversifizierte Bergbaukonzerne wie BHP, Rio Tinto und Glencore, in deutlicher Konkurrenz zu rasch an Einfluss gewinnenden Konzernen aus China und Indien, wie zum Beispiel Zijin Mining oder China Molybdenum. Es sind diese Unternehmen, die die globalen Rohstoffmärkte kontrollieren.

Auf der Liste der 50 größten Rohstoffunternehmen sind Unternehmen aus der EU kaum vertreten. Die führenden Rohstoffkonzerne haben ihren Sitz in Australien, den USA, in Russland, China und Kanada. Zwar gibt es mit Glencore in der Schweiz und Anglo American in Großbritannien zwei Schwergewichte aus Europa. Aber die Länder, in denen beide ihren Sitz haben, sind nicht Teil der EU.

Die EU ist auf dem Zukunftsmarkt für Rohstoffe nicht gut aufgestellt

Kurzum, die Lage auf dem globalen Zukunftsmarkt für mineralische und metallische Rohstoffe sieht für die EU nicht gut aus: keine eigenen großen Unternehmen, kaum eigene Rohstoffförderung und eine gemeinsame europäische Rohstoffpolitik, die bisher nur auf dem Papier existiert.

Denkt man diese und weitere Problemstränge – gesicherte Rohstoffversorgung, Geopolitik, Umweltschutz beim Rohstoffabbau, soziale und menschenrechtliche Fragen – zusammen, liegt es in der Natur der Sache, dass diese nicht einzeln und in kleinen Arbeitsschritten bewältigt werden können, sondern nur gemeinsam. Deutschland ist trotz seiner wirtschaftlichen Größe bei all diesen Themen zu schwach, um genügend Gewicht auf die Waage zu bringen. Es sind Probleme für die europäische Ebene, die ein konsequentes gemeinsames Vorgehen erfordern.

Bislang sieht es jedoch nicht danach aus. Das bisherige Bild der europäischen Rohstoffpolitik gleicht eher einem Flickwerk aus Einzelinitiativen, Netzwerkverbünden und Wunschvorstellungen. Zwar ist das Bewusstsein über die strategischen Abhängigkeiten Europas in letzter Zeit gewachsen und eine Reihe an richtigen Maßnahmen auf den Weg gebracht worden.

Seit September 2020 haben wir nun eine Europäische Rohstoff-Allianz und eine EU-Kommission, die geopolitischer als bisher sein will. Was jedoch fehlt, ist eine Anlaufstelle, die all diese Verbünde, Initiativen und Einzelpolitiken bündelt und – das ist das Wichtigste – auch entsprechend handeln kann. Der Glaube, dass sich die diversen Netzwerke zwischen Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft quasi verselbstständigen und zu schlagkräftigen Playern auf den Rohstoffmärkten entwickeln, ist reichlich naiv.

Schlüsselmärkte und Lieferketten müssen auf Risiken überprüft werden

Handlungsfähig sind nur Unternehmen und Staaten. Erstere, weil sie Gewinne erzielen wollen, und Letztere, weil sie ihre Volkswirtschaften im Wettbewerb um Märkte und Rohstoffe strategisch unterstützen. Und an solcher Unterstützung hapert es in der EU bislang.

Wer große Pläne hat, sollte auch groß denken, wenn es an deren Umsetzung geht. Und für Rohstofffragen braucht es einen Akteur, der langfristig handeln kann und sich in beiden Welten – der Wirtschaft und der Politik – bewegen kann. Eine starke EU-Agentur für Rohstofffragen wäre darauf die passende organisatorische Antwort. Sie könnte der institutionelle Unterbau einer neuen europäischen Rohstoffstrategie sein.

Mithilfe einer solchen Agentur sollten fortan alle Schlüsselmärkte und Lieferketten, die für Europas Wirtschaft von strategischer Bedeutung sind, konsequent analysiert und auf Risiken überprüft werden. Die entscheidende Fähigkeit der Rohstoffagentur sollte indes darin liegen, dass sie mit allen rohstofffördernden und -verarbeitenden Unternehmen in der EU in engem Austausch steht und zusammen mit der EU-Kommission darüber entscheidet, welche Unternehmen besonders förderungswürdig wären.

Die Rohstoffagentur sollte ferner auf dem globalen Markt tätig werden, aber auch die heimischen europäischen Potenziale zur Rohstoffversorgung im Fokus haben. Der Blick sollte dabei nicht auf die Rohstoffe beschränkt sein. Es sind die jeweiligen Lieferketten der verschiedenen Rohstoffe von der Mine bis zur Hütte und die anschließende Weiterverarbeitung zu Zwischen- und Endprodukten, die im Blickfeld einer europäischen Rohstoffagentur stehen müssen.

Japan und Südkorea können als Vorbilder dienen

Nur so können zu große Abhängigkeiten und fehlende eigene technologische Kompetenzen frühzeitig erkannt werden, welche in Kombination zu geoökonomischen und geopolitischen Versorgungsrisiken anwachsen können.

Der strategische Ansatz sollte dabei stets drei Kernfragen im Blick behalten: Wie gelingt es, die Abhängigkeit der EU bei bestimmten kritischen Rohstoffen zu verringern? Gibt es europäische Unternehmen oder Rohstoffprojekte, die dafür infrage kommen? Gibt es verlässliche Partner auch außerhalb der EU, mit denen Rohstoffprojekte gemeinsam realisiert werden können?

Dazu gehören nicht nur Fragen des Rohstoffabbaus, sondern auch des Recyclings, der Kreislaufwirtschaft, der Technologieentwicklung und der Forschung. Mit einer EU-Agentur für Rohstoffe könnte man anknüpfen an historische Vorläuferprojekte wie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Europäische Atomgemeinschaft und die Energie-Union.

Japan und Südkorea zeigen, dass solche Hybrid-Institutionen zur eigenen Rohstoffversorgung funktionieren können. Kern des Ganzen sollte sein, die EU als handlungsfähigen Rohstoff-Player im 21. Jahrhundert zu etablieren. Denn nur wer souverän und handlungsfähig ist, kann sich im globalen Machtkampf um Rohstoffe, Märkte und Einfluss behaupten.

(Handelsblatt vom 17.11.2021, https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-europa-braucht-schlagkraft-auf-den-rohstoffmaerkten/27796024.html?ticket=ST-9410391-AzbYuek0MPUdc4h2cndp-cas01.example.org)