Chemische Speziation gelöster Stoffe


Was bedeutet "Chemische Speziation" ?

Speziation ist zum einen die Verteilung eines oder mehrerer chemischer Elemente auf alle seine möglichen Verbindungena (Spezies) in einem gegebenen Systemb. Die experimentelle Bestimmung dieser Verteilung wird mitunter ebenfalls als Speziation bezeichnet. Ein Beispiel für ein einfaches System, eine wäßrige Lösung von Uranylphosphat im Kontakt zur Luft (mit CO2) und mit möglicherweise ausfallenden Mineralen zeigt die nachfolgende Abbildung.

System Uranyl-Phosphat-Carbonat-Wasser-Luft
Mögliche Spezies im System UO2-PO4-CO3-OH-H2O

Warum sind Speziationen wichtig ?

Die Speziation ist z.B. wesentlich verantwortlich dafür, ob ein Schadstoff als gelöste Komponente leicht transportiert und aufgenommen werden kann oder ob er als feste mineralische Phase ausfällt oder an Oberflächen adsorbiert wird. Außerdem werden die verschiedenen Spezies eines Elements unterschiedlich stark von lebenden Organismen aufgenommen, und sie können sich auch drastisch in ihrer Toxizität unterscheiden.

Wozu werden Speziationen berechnet ?

  • zur Vorbereitung von zeitaufwendigen oder teuren Versuchen (z.B. Röntgen- oder Laserspektroskopie): Vermeiden von Ausfällungen oder Maximierung des Anteils der besonders interessierenden Spezies.
  • für die Analyse von Haldensickerwässern: In welcher Form liegen Schadstoffe (U, As, Cd, Pb u.a.) vor, wie werden sie ggf. transportiert?
  • Prognosen zur Flutung der Grube Königstein: Wie ist z.B. der Einfluß des steigenden pH-Wertes und des sinkenden O2(g)-Gehaltes auf die Speziation von Radium und Uran?
  • Wie wirkt der Eintrag von Phosphaten auf die Speziation in Absetzbecken der Uranerzaufbereitung (z.B. in Freital)?

Welche Faktoren bestimmen die Spezies-Verteilung in natürlichen Systemen ?

  • Temperatur und Druck
  • Konzentrationen der Elemente
  • Ionenstärke ( Aktivitätskoeffizienten !)
  • pH-Wert
  • Redoxpotentiale
  • vorhandene feste Phasen
  • Art, Größe und Struktur vorhandener Oberflächen
  • Kolloide
  • Mikroorganismen

Grundlagen

All die oben genannten Einflußfaktoren sind über thermodynamische Gesetzmäßigkeiten miteinander verknüpft. Sie beeinflussen sich daher wechselseitig, ein sehr komplexes System liegt somit vor.

Die Annahme eines thermodynamischen Gleichgewichts in natürlichen Systemen ist nicht immer gegeben, z.B. bei Löslichkeitsprodukten fester Phasen oder bei Redoxreaktionen. Was heißt das ?

  • Oft sind die primär ausfallenden festen Phasen thermodynamisch nicht stabil, sie wandeln sich allmählich in kristallinere, geordnetere Phasen um.
  • Viele Minerale verwittern unter Einfluß von Luft oder Wasser, es kommt zur sogenannten Sekundärphasenbildung.

Solche vergleichsweise langsamen Reaktionen erfordern die Einbeziehung kinetischer Gesetzmäßigkeiten. Der Einfluß von möglicherweise ausfallenden Mineralen auf die Speziation im Beispiel-System vom Anfang dieser Seite wird durch die folgenden zwei Abbildungen verdeutlicht.

U-Speziation bei Übersättigung
Uran-Speziation im Beispielsystem UO2-PO4-CO3-OH-H2O bei Übersättigung

U-Speziation mit Mineral-Ausfällung
Uran-Speziation im Beispielsystem UO2-PO4-CO3-OH-H2O mit Mineral-Ausfällung

Thermodynamisch sind nur Aktivitäten zugänglich, die durch Multiplikation gemessener Konzentrationen mit einem Aktivitätskoeffizienten berechnet werden. Letztere können über unterschiedliche Modellansätze bestimmt werden, abhängig von der Ionenstärke in der Lösung (Debye-Hückel, Davies, S.I.T., Pitzer).

Speziationsmodellierung

Eine mathematische Behandlung der Speziationsproblematik führt zu einem nichtlinearen Gleichungssystem, welches nur iterativ gelöst werden kann. Die Numerik beruht meist auf einem zweistufigen Verfahren. Zuerst werden Startwerte abgeschätzt und eine robuste Näherung durchgeführt. Im zweiten Schritt kommt ein hybrides Newton-Raphson Verfahren mit Relaxation zur Anwendung. In jedem Iterationsschritt werden hier die Aktivitätskoeffizienten konstant gehalten und nach Bestimmung aller Konzentrationen neu berechnet.

Das Gesamtproblem ist somit sowohl vom chemischen als auch vom numerischen Aspekt her sehr komplex - und damit prädestiniert für einen Computereinsatz !

Ergebnisse solcher Speziationsmodellierungen sind dann typischerweise die Speziesverteilung aller Elemente, die Aktivität und Aktivitätskoeffizienten aller Spezies, Redoxpotentiale und die Sättigungsindizes der Minerale.

Software zur Modellierung chemischer Speziationen

Die folgende Liste von Softwarepaketen zur Modellierung chemischer Speziationen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit !

  • EQ3/6 (WOLERY, 1992)
  • die PHREEQE-Familie (PARKHURST et al., 1980) mit HARPHRQ (BROWN et al., 1991), PHRQPITZ (PLUMMER et al., 1988) und PHREEQC (PARKHURST, 1995)
  • MINEQL (WESTALL et al., 1976) und seine Nachfolger HYDRAQL (PAPELIS et al., 1988), MINTEQA2 (ALLISON et al., 1991) und MINEQL+ (SCHECHER, 1995)
  • WATEQ (TRUESDELL & JONES, 1973) mit WATEQ4F (BALL et al., 1981) und WATEQP (APPELO & POSTMA, 1994)
  • SOLMINEQ.88 (KHARAKA et al., 1988)
  • CHEMSAGE (ERIKSSON & HACK, 1990)
  • C-HALTAFALL (ÖSTHOLS, 1994)

Bewertungskriterien für Modellierungsprogramme

Um aus der Vielzahl verfügbarer Speziationsprogramme die für ein bestimmtes Problem am besten geeignete Software auswählen zu können, sind verschiedene Bewertungskriterien heranzuziehen:

  • Ist ein Manual und der Quellcode verfügbar, welche externe Unterstützung ist vorhanden ?
  • Was ist die maximale Dimension des Problems (Zahl der Spezies & Reaktionen) ?
  • Können Redoxreaktionen, Adsorptionsprozesse und die Kinetik einbezogen werden ?
  • Werden (mineralische) feste Phasen einbezogen ?
  • Welche Modelle für Aktivitätskoeffizienten sind implementiert ?
  • Welche numerischen Verfahren werden benutzt, wie sind Geschwindigkeit & Robustheit ?
  • Berechnungsdetails: obere Konzentrationsgrenze, Check der Ladungsbilanz, notwendige Güte der Startwerte, Abbruchkriterien der Iteration, Variation von Volumen oder Temperatur ?
  • Welche Datenbanken können wie genutzt werden, sind Änderungen / Einschränkungen / Ergänzungen (z.B. über Eingabedateien) möglich ?
  • Ist eine grafische Ausgabe vorhanden ?
  • Welches Betriebsystem und Programmiersprache wird genutzt ?

Transportmodellierung

In praktischen Anwendungsfällen ist die Speziation wiederum nur ein Programm-Modul innerhalb noch komplexerer Software. Zusätzlich ist die zeitliche und räumliche Komponente der Ausbreitung zu erfassen, d.h. also Speziesverteilungen als Funktion von Zeit- und Ortskoordinaten. Neben chemischem Sachwissen sind für die Modellierung daher Kenntnisse insbesondere aus dem Bereich der Hydrodynamik erforderlich. Die Berechnungen erfolgen mit sogenannten gekoppelten oder reaktiven Transportmodellen.

Hierbei wird entweder das Gleichungssystem zur Berechnung der Speziation direkt indie Transportgleichung substituiert, oder aber alternierende für jeden Iterationsschritt Speziation und Transport berechnet, unter Konstanthaltung der jeweils anderen Parameter.

Beispiele für gekoppelte Transportprogramme sind (wiederum ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

  • CHEMTARD (BENETT et al., 1992)
  • OS3D/GIMRT (STEEFEL & YABUSAKI, 1995)
  • CHEQMATE (HAWORTH et al., 1988)
  • CHMTRNS (NOORISHAD et al., 1987)
  • THCC (CARNAHAN, 1987)
  • HYDROGEOCHEM (YEH & TRIPATHI, 1990)
  • TReAC (NITZSCHE, 1997)
  • COTAM (HAMER & SIEGER, 1994)
  • UNSATCHEM-2D (SIMUNEK & SUAREZ, 1993)
  • MT3DMS (ZHENG & WANG, 1998)

Datenbanken

Ein integraler Bestandteil jeder Speziationsmodellierung sind natürlich entsprechende Datenbanken. Thermodynamische Datenbanken liefern dabei die Gleichgewichtskonstanten für alle chemischen Reaktionen im System, die letztendlich die Bildung jedes Spezies beschreiben. Kinetische Daten sind für die Beschreibung des zeitlichen Verlaufs chemischer Reaktionen notwendig. Datenbanken können entweder direkt in der Software enthalten sein, als separates Modul verfügbar sein, oder vom Nutzer über Eingabedateien bereit gestellt werden. Hierbei sind oft externe datenbanken in das vom jeweiligen Speziationsprogramm geforderte Format zu konvertieren. Weit verbreitete theromdynamische Datenbanken sind im folgenden aufgeführt:

  • EQ3/6 - Gruppe (Lawrence Livermore National Laboratory - LLNL) mit NEA, SUP, CHV, COM, HMW, PIT, ALT: von sehr unterschiedlichem Umfang und Qualität, aber sehr gut dokumentiert und somit bewertbar
  • HYDRAQL / MINEQL+ / MINTEQA2: sehr umfangreich (insbesondere Radionuklide), aber schlecht dokumentiert, nicht zentral gepflegt
  • Weiterhin: HATCHES, WATEQ, CHEMVAL, SGTE

Für konkrete Anwendungen erweist sich oft die Integration eigener Meßwerte als notwendig, um Lücken oder Fehler im Datensatz zu korrigieren. Die Kooperation mit anderen Forschungsgruppen ist hier eine wertvolle Hilfe. Beispiele für thermodynamische Meßwerte sind:

  • Löslichkeitsprodukte
  • Komplexstabilitätskonstanten (aus Potentiometrie und Laser-Fluoreszenz-Spektroskopie)
  • Parameter der Oberflächenkomplexierung (Adsorption)

Ein generelles Problem auf den Gebieten der Adsorption und Kinetik ist, daß kaum große Datenbanken vorhanden sind. Ein Grundhierfür ist, daß Meßwerte oft nur mit hohem Aufwand (Zeit !!) zu gewinnen sind.

Bewertungskriterien für Datenbanken

Auch zur geeigneten Auswahl von thermodynamischen Datenbanken können Bewertungskriterien herangezogen werden:

  • Wie sind Umfang und Schwerpunkt der Datenbank, welche / wieviele Spezies sind enthaltenen ?
  • Wie ist das Datenformat ?
  • Sind die Daten kritisch ausgewählt / bewertet worden ?
  • Sind die Daten intern konsistent ?
  • Gibt es Doppeleinträge, viele Fehler ?
  • Sind Literaturreferenzen / Originalzitate angegeben ?
  • Kann der Nutzer die Datenbank mit vertretbarem Aufwand erweitern / anpassen / korrigieren ?
  • Welche Modelle für Aktivitätskoeffizienten werden unterstützt ?
  • Ist die Temperatur-Abhängigkeit der thermodynamischen Daten berücksichtigt ?
  • Sind Daten zur Sorption und für kinetische Modelle enthalten ?

Beispiele für Berechnungen von Speziationen:

Alle Berechnungen wurden mit dem Programmpaket EQ3/6 vom LLNL durchgeführt.

Mineralisation in Königstein als f([UO2+2], [PO4-3], pH)
a) Mineralabscheidung im 4. Grundwasserleiter des ehemaligen Uran-Bergwerkes Königstein / Sachsen als Funktion von pH, Urangehalt und Phosphatgehalt

U-Speziation im Halden-Sickerwasser
b) Uran-Speziation in Sickerwässern aus Halden des Uranerzbergbaus

Eh-pH Diagramm des Urans bei 0,3 % CO2 in der Luft
c) Eh-pH Diagramm des Urans bei 0,3 % CO2 in der Luft

Zusammenfassung

Die Berechnung von Speziesverteilungen ist wichtig für viele Problemstellungen, stellt aber für natürliche Systeme eine sehr komplexe Aufgabe dar !

Vor dem Computer steht die Denkarbeit: Wie beschreibe ich das Problem stofflich und bezüglich der relevanten physiko-chemischen Prozesse ?

Es gibt weder ein ideales Speziationsprogramm noch eine perfekte Datenbank. Entsprechend dem konkreten chemischen Problem sind Software und Datenbank auszuwählen und zu überprüfen !

Modellierung, Probennahme, chemische Analyse, Laborexperimente und Datenbank-Pflege sind eng in einem iterativem Prozeß miteinander verknüpft. Alle Stufen sind stets kritisch zu bewerten !