Analyse von hypothetischen Borverdünnungsstörfällen

Diese Arbeiten wurden im Rahmen des durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) vom 01.07.2000 bis 31.03.2004 geförderten Projekts "Methodenentwicklung zur Analyse von Störfallszenarien mit Frischdampfleck und Borverdünnung mit Hilfe des Codesystems ATHLET-DYN3D" (BMWA-Projekt: 150 1225) durchgeführt.

Hintergrund

Das zugrundeliegende Szenario basiert auf einem nicht detektierten Heizrohrleckbruch. Es wird angenommen, dass während einer Stillstandsphase, während der der Sekundärdruck höher als der Primärdruck war, es zu einem Überströmen borfreien Wassers auf die Primärseite und zu dessen Akkumulation in der Schleife kommt. Es wird weiterhin unterstellt, dass die akkumulierte borfreie Menge durch das Zuschalten der ersten Hauptkühlmittelpumpe in Richtung Reaktordruckbehälter und Kerneintritt transportiert wird.
Dieses hypothetische Szenario wird hier im Rahmen einer Parameterstudie mit folgenden Einzelschritten untersucht:
1. Berechnung des transienten Verlaufs der Borkonzentration am Eintritt in jedes Brennelement für jedes anfängliche Pfropfenvolumen zwischen 0 und dem abdeckenden Pfropfenvolumen von 36m3 mit SAPR (als Schrittweite der Erhöhung des Volumens wird 4 m3 angenommen).
2. Extraktion der Kerneintrittsverteilung der Borkonzentration zum Zeitpunkt des Minimums
3. Stationäre Kernrechnungen mit DYN3D
3.1 unter Annahme des minimalen Wertes der Borkonzentration im gesamten Reaktorkern
3.2 unter Verwendung der unter Punkt 2 bestimmten Kerneintrittsverteilung, aber Ausdehnung über die gesamte Höhe des Reaktorkerns.
4. Transiente Rechnungen zu den Propfenvolumina, die in der stationären Analyse eine Überkritizität des Reaktorkerns ausgewiesen haben (Vorgabe des mit SAPR berechneten Zeitverlaufs der Borkonzentration am Eintritt in jedes Brennelement).

Stationäre Kernrechnungen

Für die Rechnungen wurde eine Gleichgewichtsbeladung eines generischen Kerns für einen Druckwasserreaktor mit 64 MOX-Brennelementen verwendet. Das entsprechende Schema ist in Abb. 1 dargestellt. Es wurde unterstellt, dass der effektivste Absorberstab bei der Reaktorschnellabschaltung nicht in den Kern eingefahren ist.
Abb. 2 zeigt die zum Zeitpunkt des Minimums aus den SAPR-Rechnungen extrahierten Verteilungen der Borkonzentration am Kerneintritt. Als Anfangsbedingungen wurden im unteren Plenum des Reaktors 2200 ppm und im Pfropfen 0 ppm angesetzt.
Diese Verteilungen wurden für die stationären Kernrechnungen als Randbedingungen verwendet (ausgedehnt über die gesamte Höhe des Reaktorkerns).

Die unter diesen Bedingungen berechneten Multiplikationswerte für den Reaktorkern sind in Abb. 3 dargestellt. Die Verwendung des Minimalwerts der Borkonzentration im gesamten Reaktorkern führt natürlicherweise zu deutlich höheren Keff-Werten. Aus diesen stationären Rechnungen folgt, dass die Rekritikalität des Reaktorkerns unter diesen Annahmen schon bei einem anfänglichen Pfropfenvolumen zwischen 8 und 12 m3, während sie bei Annahme einer realistischen Kerneintrittsverteilung erst zwischen 12 und 16 m3 zu erwarten ist.

Abb. 1: Beladungsschema des für die Rechnungen verwendeten generischen Reaktorkerns

Abb. 2: Verteilung der Borkonzentration am Kerneintritt zum Zeitpunkt des Minimums bei Variation des im kalten Strang vorliegenden Pfropfens (berechnet mit SAPR)





Abb. 3: Abhängigkeit der stationären Reaktivität vom Pfropfenvolumen


Transiente Kernrechnungen

Aus den durchgeführten stationären Rechnungen folgt, dass nur Pfropfenvolumina über 12 m3 eine Rekritikalität erwarten lassen. Die erste transiente Rechnung wird aus diesem Grund mit dem anfänglichen Pfropfenvolumen von 16 m3 durchgeführt.
Die mittlere Borkonzentration (Abb. 4) erreicht in diesem Fall nur einen Minimalwert von 1503 ppm, dieses Minimum wird 20 s nach Einschalten der Hauptkühlmittelpumpe erreicht. Die dynamische Reaktivität (Abb. 5) während der gesamten Transiente unterhalb der Nullmarke, der Reaktor wird im Gegensatz zu den oben dargestellten stationären Rechnungen nicht kritisch. Das ist damit zu erklären, dass der Pfropfen eine endliche Länge hat, die in den stationären Rechnungen, in denen die Kerneintrittsverteilung der Borkonzentration über die gesamte Höhe ausgedehnt worden war, nicht berücksichtigt werden konnte. Mit einem anfänglichen Pfropfenvolumen von 20 m3 fällt die mittlere Borkonzentration im Reaktorkern bis auf einen Wert von unter 1400 ppm. Das führt zu einem positiven Reaktivtätseintrag in den Kern, der nicht nur die anfängliche Unterkritizität kompensiert sondern auch zu einer signifikanten Überkritizität von annähernd 2 $ führt. Entsprechend dazu gibt es einen Leistungspeak des 1.7fachen der Nominalleistung (Abb. 6). Aufgrund der sofort einsetzenden Dopplerrückkopplung wird die Leistungserhöhung gestoppt, die Halbwertsbreite des Peaks beträgt 23 ms. Der Energieeintrag in Brennstoff und Kühlmittel während dieses Peaks ist gering, es tritt kein Kühlmittelsieden auf. Die Kompensation der anfänglichen Unterkritizität fiel mit dem Minimum der mittleren Borkonzentration zusammen. Das nachfolgende höherborierte Kühlmittel bringt den Reaktorkern wieder in einen unterkritischen Zustand, die Transiente ist damit beendet.


Abb. 4: Zeitverlauf der mittleren Borkonzentration im Reaktorkern für die Pfropfenvolumina von 16, 20 und 36 m3


Abb. 5: Zeitverlauf der Reaktivität für die Pfropfenvolumina von 16, 20 und 36 m3



Bei der Rechnung mit dem einhüllenden Pfropfenvolumen von 36 m3 fällt die mittlere Borkonzentration auf einen deutlich tieferen Wert ab. Der dadurch ausgelöste positive Reaktivitätseintrag führt zeitlich früher zur Kompensation der anfänglichen Unterkritizität. Schon bei t = 16.5 s erreicht die dynamische Reaktivität die Nullmarke. Der Maximalwert der Reaktivität liegt mit knapp über 2 $ im Bereich des Wertes der Rechnung mit 20 m3. Auch hier setzt die Dopplerrückkopplung sofort ein, der entsprechende Leistungspeak erreicht eine Höhe von 2.3 bezogen auf die Nominalleistung und hat eine Halbwertsbreite von 21 ms. Im Gegensatz zum Pfropfen von 20 m3 wird im vorliegenden Fall der Reaktor kritisch, bevor die Borkonzentration im Reaktorkern ihr Minimum erreicht. Die weiterhin zugeführte positive Reaktivität führt zu typischen sekundären Leistungspeaks. Die Wechselwirkung der fortgesetzten Deborierung mit der negativen Doppler- und Moderatorrückkopplung bestimmt die Höhe und die Frequenz dieser Leistungspeaks. Die Gesamtreaktivität bleibt unterhalb der prompt-kritischen Marke. Aus diesem Grund erreichen diese sekundären Peaks nicht die Höhe des ersten.

Die radiale Leistungsverteilung im Reaktorkern ist sehr ungleichmäßig, hervorgerufen durch die Überlagerung der Deborierung mit dem nicht eingefahrenen Absorberstab (Abb.7). Das Durchwandern der Deborierungsfront durch den Reaktorkern wird an Hand des Films in Abb. 8 demonstriert. Dargestellt ist die Isofläche für einen Wert von 800 ppm. Deutlich ist zu sehen, wie die Front an zwei Stellen den Reaktoreintritt erreicht und eine lokale Absenkung der Borkonzentration hervorruft. Diese Absenkung wandert in den Kern hinein, während in der anderen Kernhälfte keine Unterschreiten des Wertes von 800 ppm detektiert wird. Deutlich ist auch zu erkennen, dass die Front zu keinem Zeitpunkt den Reaktor in axialer Richtung vollständig ausfüllt, während die Vorderfront der Störung den oberen Kernrand noch nicht erreicht hat, wird von unten schon wieder höherboriertes Kühlmittel nachgefördert.


Abb. 7: Leistungsverteilung zum Zeitpunkt des Maximums (Pfropfenvolumen von 36 m3)

Abb. 6: Zeitverlauf der Kernleistung für die Pfropfenvolumina von 20 und 36 m3


Abb. 8: Transport der Deborierungsfront durch den Kern am Beispiel der Isofläche 800 ppm (Pfropfenvolumen von 36 m3)



Abb. 9: Entstehung und Transport von Dampf im Kern am Beispiel der Isofläche 10 % Dampfgehalt (Pfropfenvolumen von 36 m3)


Während der sekundären Leistungspeaks beginnt in einzelnen Brennelementen Kühlmittelsieden, es werden Maximalwerte bis über 70 % berechnet. Der Film in Abb. 9 demonstriert wiederum an Hand einer Isofläche, wie während der zwei sekundären Leistungspeaks der Dampf im oberen Bereich einzelner Brennelemente entsteht und nach oben wegtransportiert wird. Auch dieser Film unterstreicht den heterogenen Charakter der vorliegenden Transiente. Die kritische Wärmestromdichte wird in diesen Kanälen nicht überschritten, auch die maximal eingetragene Enthalpie erreicht keinen sicherheitsrelevanten Grenzwert.

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S. Kliem